Meinung

US-Militäranalyst: Großmanöver "Defender Europe 2020" erhöht Risiko eines Krieges mit Russland

Die bevorstehende Militärübung "US Defender Europe 2020" unter der Führung der USA soll "durch Abschreckung" angeblich den Frieden sichern. Sie verringert jedoch die Wahrscheinlichkeit eines Krieges mit Russland auf europäischem Boden nicht, sondern erhöht sie nur.
US-Militäranalyst: Großmanöver "Defender Europe 2020" erhöht Risiko eines Krieges mit RusslandQuelle: www.globallookpress.com

von Scott Ritter

Im kommenden Frühjahr werden die Vereinigten Staaten ein nach eigener Angabe "schlagkräftiges" Truppenaufgebot in der Größenordnung von einer Division von Standorten auf dem US-amerikanischen Festland zu vorgeschobenen Einsatzstützpunkten in Europa entsenden. Dort werden die Truppen an Übungen teilnehmen, die dazu dienen sollen, einer hypothetischen russischen Militäraggression entgegenzuwirken.

Etwa 20.000 amerikanische Soldatinnen und Soldaten werden sich mit 9.000 ihrer bereits in Europa stationierten Kameraden und etwa 13.000 Militärgeräten – darunter Panzer, Schützenpanzer und Artilleriegeschütze – zum größten Einsatz dieser Art zusammenschließen, seit das US-Militär seine Reforger-Übungen (Return of Forces to Germany, dt. etwa: Erneute Verlegung der Truppen nach Deutschland) am Ende des Kalten Krieges einstellte.

Diese Übung mit dem Codenamen "US Defender Europe 2020" stellt den Höhepunkt der mehr als sechsjährigen Arbeit des US-Militärs zum Wiederaufbau seiner Fähigkeit zu Bodenoffensiven in Europa dar, die mit dem Abzug der letzten schweren Waffen der US-Streitkräfte im Jahr 2013 verloren ging.

Nach dem Beitritt der Krim zu Russland als Folge eines Referendums im Jahr 2014 und dem Ausbruch separatistischer Kämpfe in den russischsprachigen Teilen der Ostukraine war das von den USA geführte NATO-Bündnis sichtlich bemüht, eine konventionelle Streitkraft zusammenzustellen, die in der Lage wäre, eine mögliche russische Aggression gegen die baltischen Staaten und Polen abzuwehren. Insbesondere begannen die Vereinigten Staaten, eine etwa 1.500 Mann starke Panzerbrigade auf Vollzeitbasis nach Polen zu entsenden sowie vorpositionierte Bestände an Militärfahrzeugen und -ausrüstung für zusätzlich einzufliegende Streitkräfte bereitzustellen. US Defender Europe 2020 ist die erste umfassende Übung eines solchen Truppenaufgebots in seiner Vollständigkeit.

Russlands Reaktion auf den Ausbau der NATO

Auch Russland war seinerseits nicht untätig. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion wurde die russische Armee grundlegend umstrukturiert, indem sie die massiven Panzerverbände, die auf einen Krieg mit der NATO ausgelegt waren, aufgab und sich stattdessen auf kleinere, beweglichere Formationen konzentrierte, die der regionalen Sicherheit förderlich waren.

Ein großer Bodenkrieg in Europa wurde im russischen Militärdenken nicht mehr berücksichtigt. Dies änderte sich jedoch, als die NATO mit dem Ausbau ihrer Streitkräfte in Polen und im Baltikum begann. Russland reaktivierte die 1. Gardepanzerarmee und die 20. Gardearmee und schuf damit einen mächtigen Offensivmechanismus, der darauf ausgerichtet war, alle möglichen aggressiven Vorstöße der NATO in den Westen Russlands zu vereiteln. Die russischen Streitkräfte in der Exklave Kaliningrad wurden ebenfalls verstärkt.

Mehr zum Thema – Moskauer Konferenz zur nuklearen Nichtverbreitung: Kubakrise 2.0 läuft bereits

Nach dem Ausstieg der USA aus dem INF-Vertrag im August letzten Jahres wurde der möglichen Wiederaufnahme eines neuen nuklearen Wettrüstens in Europa große Aufmerksamkeit geschenkt. Infolgedessen blieben die Entwicklungen im Bereich der konventionellen Kriegsführung in den Mainstream-Medien eher unbeachtet. Tatsache ist jedoch, dass die Verstärkung der konventionellen Streitkräfte der NATO als Reaktion auf eine – tatsächliche oder vermeintliche – russische Aggression in Osteuropa und im Baltikum durch Großübungen wie US Defender Europe 2020 unweigerlich zu einer größeren russischen Gegenreaktion und so zu einer noch größeren konventionellen Aufrüstung führen wird.

Es wird keine Gewinner, sondern nur Verlierer geben

In Europa hat es seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs im Jahr 1945 keinen größeren Bodenkrieg mehr gegeben, und als der Kalte Krieg 1991 endete, glaubten viele Experten, dass ein solcher Konflikt in der heutigen Zeit unvorstellbar sei. Dieses Denken setzt sich bis heute fort, weil sich der Schatten des nuklearen Wettrüstens nach wie vor über den ganzen Globus legt. Die größte Bedrohung für Europa geht jedoch nicht von Atomwaffen aus – die Folgen eines jeden Atomkonflikts machen ihren Einsatz unvorstellbar.

Für konventionelle militärische Auseinandersetzungen gilt das hingegen nicht. Die Leichtigkeit, mit der die USA und die NATO konventionelle Waffen an Russlands Grenzen verlegen und mit der Russland konventionelle militärische Gegenreaktionen vorbereitet, unterstreicht die Tatsache, dass konventionelle Truppen im Gegensatz zu Atomwaffen relativ leicht einzusetzen sind. Die hässliche Wahrheit besteht darin, dass die Wahrscheinlichkeit einer konventionellen militärischen Auseinandersetzung infolge einer Krise in Osteuropa oder im Baltikum sehr hoch ist.

Die Schnelligkeit und Zerstörungskraft moderner Waffen bedeuten, dass jeder konventionelle Konflikt zwischen der NATO und Russland mit einem Ausmaß an anhaltender Gewalt geführt würde, wie es die Welt seit über 75 Jahren nicht mehr erlebt hat. Die Opfer, die beiden Seiten zugefügt würden, übersteigen die Vorstellungskraft der Bevölkerungen, die mit der Realität des modernen Krieges nicht vertraut sind. Dasselbe gilt für die Kollateralschäden an Zivilisten, die sich inmitten der potentiellen Schlachtfelder befinden. Kurz gesagt, die Folgen eines konventionellen Bodenkrieges in Europa – nämlich Tod und Zerstörung in enormer Größenordnung – würden in sehr kurzer Zeit über weite Landstriche hereinbrechen.

Die USA und die NATO können noch so viel darüber reden, dass Übungen wie US Defender Europe 2020 den Kontinent stabiler und sicherer machen, und wie durch diese eine europäische Abschreckung gegen jede mögliche russische Aggression an Gewicht gewinnt. Doch es kann keine Abschreckung geben, wenn nicht beide Seiten bereit sind, auf die Schritte des anderen zu reagieren.

Tatsache ist, dass US Defender Europe 2020 nur der jüngste in einer Reihe von aggressiven Ausfällen der NATO ist. Diese gehen auf die Erweiterung des Bündnisses um Staaten des ehemaligen Warschauer Paktes nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion zurück – und riefen streng kausale Reaktionsketten hervor, die die Wahrscheinlichkeit eines Kriegs mit Russland eher erhöhen als verringern.

Sollte ein Krieg ausbrechen, wird es die Aufgabe der Historiker sein, die Verantwortung dafür unter den Teilnehmern aufzuteilen. Doch eines ist sicher: Wie auch bei einem Atomkrieg wird es bei einem konventionellen militärischen Konflikt keine Gewinner, sondern nur Verlierer geben.

Scott Ritter ist ein ehemaliger Aufklärungsoffizier der US-Marineinfanterie. Er diente in der Sowjetunion als Inspektor für die Umsetzung des INF-Vertrags, im Stab von General Schwarzkopf während des Golfkriegs und von 1991-1998 als UN-Waffeninspekteur.

RT Deutsch bemüht sich um ein breites Meinungsspektrum. Gastbeiträge und Meinungsartikel müssen nicht die Sichtweise der Redaktion widerspiegeln.

Mehr zum Thema – "Der Kalte Krieg ist zurück in Europa" – Linken-Politikerin zu US-Manöver an russischer Grenze

Durch die Sperrung von RT zielt die EU darauf ab, eine kritische, nicht prowestliche Informationsquelle zum Schweigen zu bringen. Und dies nicht nur hinsichtlich des Ukraine-Kriegs. Der Zugang zu unserer Website wurde erschwert, mehrere Soziale Medien haben unsere Accounts blockiert. Es liegt nun an uns allen, ob in Deutschland und der EU auch weiterhin ein Journalismus jenseits der Mainstream-Narrative betrieben werden kann. Wenn Euch unsere Artikel gefallen, teilt sie gern überall, wo Ihr aktiv seid. Das ist möglich, denn die EU hat weder unsere Arbeit noch das Lesen und Teilen unserer Artikel verboten. Anmerkung: Allerdings hat Österreich mit der Änderung des "Audiovisuellen Mediendienst-Gesetzes" am 13. April diesbezüglich eine Änderung eingeführt, die möglicherweise auch Privatpersonen betrifft. Deswegen bitten wir Euch bis zur Klärung des Sachverhalts, in Österreich unsere Beiträge vorerst nicht in den Sozialen Medien zu teilen.