Meinung

Anti-Kriegsdemo in Warschau – Auch gegen die "Banderaisierung Polens"

Zum 1. Mai fand in Warschau eine Demo gegen Polens Teilnahme am Krieg in der Ukraine statt. Aber die politischen Positionen der Teilnehmer dieses Friedensmarsches gehen tiefer – ein frischer Wind zur üblichen überparteilichen Russophobie des polnischen Establishments.
Anti-Kriegsdemo in Warschau – Auch gegen die "Banderaisierung Polens"Quelle: Gettyimages.ru © Attila Husejnow/SOPA Images/LightRocket

Von Elem Chintsky

An manchen Orten wurde der 1. Mai 2023 in Polen auf eine unerwartete Weise begangen. Um 12:00 Uhr Mittagszeit begann in Warschau eine Demonstration mit dem Motto: "Das ist nicht unser Krieg!" Die Polnische Anti-Kriegsbewegung (auf Polnisch: Polski Ruch Antywojenny – PRA) organisierte die Straßenveranstaltung. Sie war bei der Warschauer Stadtverwaltung angemeldet und von den Behörden genehmigt worden. Der Marsch startete am Traugutt-Kreuz in der Sanguszki-Straße und endete an der Zygmunt-Säule, auf dem berühmten Schlossplatz. Geschätzt anhand der Fotos, die die Organisatoren in den sozialen Medien geteilt haben, waren es wohl mehrere hundert Teilnehmer. 

Der Friedensmarsch war eine Initiative des politischen Aktivisten Sebastian Pitoń und des Politikwissenschaftlers und Historikers Dr. Leszek Sykulski – das Projekt an sich besteht seit Februar 2023. Laut dem eigenen Programm habe die Bewegung es sich zum Ziel gesetzt, Frieden zu schaffen und dafür Aufklärungsarbeit zu betreiben. Mit welcher richtungsweisenden und grundlegenden Devise starteten sie das Projekt? – "Stoppt die Amerikanisierung Polens!"

Wenn die Veranstaltung bisher überhaupt in den Massenmedien erwähnt wurde, dann erntete sie unmissverständliche Kritik, wobei ihr Scheinheiligkeit vorgeworfen wurde. So zum Beispiel hier vonseiten der polnischen Plattform Oko.press: 

"Das Narrativ der polnischen Anti-Kriegsbewegung trifft polnische Politiker, die die Ukrainer, Polens Verbündete im Westen und die Ukraine unterstützen. Eine solche Botschaft, insbesondere in Kriegszeiten, kommt nur dem Kreml zugute."

Zu Beginn des Marsches erklärte Sykulski am Montag:

"Wir werden hier kein Blatt vor den Mund nehmen! Wir erinnern an den von ukrainischen Nationalisten begangenen Völkermord am polnischen Volk! Wir sind nicht einverstanden mit der Bandera-Symbolik auf öffentlichen Plätzen! Wir sind nicht damit einverstanden, dass der Kult um die Verbrecher Bandera, Schuchewytsch und die Ukrainische Aufständische Armee (UPA), die völkermordende Organisation der ukrainischen Nationalisten, propagiert wird! Heute sagen wir: Schluss mit der Banderisierung! Wir sind nicht damit einverstanden, in fremde Kriege hineingezogen zu werden, in die amerikanische Kriegsmaschinerie hineingezogen zu werden! Wir sagen: Stoppt jeden Imperialismus! Wir sagen: Stoppt die amerikanischen Kriege, stoppt die geheimen CIA-Gefängnisse in Europa, hört auf, Polen in einen fremden Krieg hineinzuziehen!"

Bei der Gründung der Bewegung im Februar 2023 hat die einflussreiche, linksliberale, vom Council on Foreign Relations-Mitglied Adam Michnik gegründete Tageszeitung Gazeta Wyborcza die Friedensinitiative augenblicklich torpediert:

"Die Aktion ist Teil der Propaganda von Putins Russland und soll die Polen davon abhalten, der Ukraine zu helfen."

Zu Sykulskis Person erörterten die Autoren weiter:

"Im Herbst 2022 haben wir über eine Rede von Dr. Leszek Sykulski in Poznań berichtet. In seinem 'Vortrag' behauptete er, die Vereinigten Staaten beabsichtigten, Polen – mithilfe der ihnen gegenüber gefügigen PiS-Regierung – dazu zu bewegen, sich aktiv am Krieg gegen Russland zu beteiligen. Sykulski und andere 'systemfeindliche Patrioten', die in Wirklichkeit prorussische Kommentatoren sind, teilen anti-ukrainische und anti-amerikanische Ansichten." 

Wäre der Partner von Sykulski und Co-Initiator der Polnischen Anti-Kriegsbewegung, Sebastian Pitoń, als Aktivist in Deutschland tätig, so würde man ihn weltanschaulich wohl weitestgehend in der regierungskritischen Querdenker-Bewegung verorten. Pitoń sieht sich selbst als Anhänger der ethnischen Minderheit der Goralen – eines Bergvolkes, das üblicherweise aus Westslawen besteht. Verbunden damit ist sein politisches Projekt "Das Goralische Veto" (auf Polnisch: Góralskie veto), mit dem er besonders im Jahr 2021 Aufsehen erregte, als er die COVID-19-Maßnahmen der PiS-Regierung aufs Schärfste kritisierte. Des Weiteren wird Pitoń eine Nähe zu dem Konfederacja-Abgeordneten des polnischen Sejm, Grzegorz Braun, attestiert. Konfederacja ist ein rechtsnationaler, monarchistischer, libertärer, erzkatholischer Parteienzusammenschluss – der im gesamten (nicht nur konservativen) politischen Spektrum Polens wohl die vehementeste Anti-Establishment-Politik verfolgt: Die Rede ist konkret von Konzepten wie einem EU- und NATO-Austritt Polens sowie einem konsequenten Anti-Amerikanismus, besonders wenn die USA globalistische, progressiv-liberale Gesellschaftsziele verfolgen – und in diesem Zusammenhang werden auch alle Prämissen der LGBTQ-Ideologie verurteilt und abgelehnt. Als weiteres politisches Ziel wird ein minimaler Staat angestrebt, der große programmatische Tendenzen des Sozialismus und der endlosen Bürokratie entschärfen und rückgängig machen soll. 

Die Parolen der polnischen Anti-Kriegsdemonstration

Wenn man die Mottos der Teilnehmer am Friedensmarsch zusammenträgt, kommt Hoffnung auf: "Das ist nicht unser Krieg!", "Nein zu Kriegspropaganda!", "Duda und Kaczyński an die ukrainische Front!", "Nein zum Krieg mit Russland!", "Das ist Polen, nicht Brüssel! Hier gibt es keine Unterstützung für Bandera!", "Heute unsere Panzer, morgen unsere Kinder!", "Wir werden unsere Kinder nicht aufgeben!", "Die Regierung an die Front!", "Der Pole ist der Chef in Polen!", "Stoppt die Banderisierung Polens!", "Wir werden kein Kanonenfutter sein!", “Yankee go home!", "Anstatt zu kämpfen, Diplomatie!", "Das ist Polen, nicht Ukro-Polen!", "Wolhynien! Wolhynien! Denkt daran!", "Die Kirche für den Frieden!", "Hände weg von unseren Kindern!", "Amerika ist ein böses Imperium!", "Möge der Frieden mit uns Polen sein!"

Das Stichwort "Wolhynien" hat hier eine wiederkehrende, ungesühnte historische Kraft, da vor wenigen Tagen sich das Massaker in Janowa Dolina zum 80. Mal jährte. In dieser blutigen Nacht des 23. April 1943 griffen UPA-Kämpfer das schlafende polnische Dorf an, setzten systematisch alle Häuser in Brand und mordeten die Bewohner – darunter auch Kinder. Diejenigen, die sich aus dem Feuer knapp retten konnten, wurden von den ukrainischen Faschisten anderweitig exekutiert. Die Banderisten führten alle Ukrainer aus dem örtlichen Krankenhaus heraus, woraufhin auch das Krankenhaus mit allen darin noch befindlichen Polen in Brand gesetzt wurde. Die meisten von den in dieser Nacht 800 Ermordeten wurden bei lebendigem Leibe verbrannt.

Heute wird in der Ukraine der Kommandant der mordenden Kämpfer dieser Schicksalsnacht, Iwan Litwintschuk, verehrt. Sogar eine Schule ist nach ihm benannt.

Am Ort des ukrainischen Massenmordes an den Polen wurde ein Gedenkstein mit der Inschrift "Zu Ehren der ersten Operation der 1. Gruppe der UPA" aufgestellt.

Niemand von der oligarchischen PiS-Regierung und niemand von der liberalen Opposition – beide wappnen sich für den diesjährigen Wahlkampf – machte sich auf, dieser abscheulichen Gräueltat mahnend und würdigend zu gedenken.

Geschichtsvergessenheit und historische Verkehrung dieser Größenordnung – besonders bei einem Volk wie den Polen, das einer sehr stringent-selektiven und auslassenden Geschichtsaufarbeitung ausgesetzt ist – führt zu neuen Kriegen.

Ähnlich wie bei den vielen kleinen, aber häufigen Friedensmärschen in Deutschland gilt, dass diese kleine polnische Bewegung an Schwung und Bodenhaftung in der breiteren Öffentlichkeit gewinnen müsste, um eine kritische Masse – und somit politischen Einfluss – zu erreichen. Gemessen aber an den Reaktionen der polnischen Kommentatoren auf den Friedensmarsch in den sozialen Medien (z. B. auf Twitter), dominiert mehrheitlich noch der blanke Russenhass, im Zuge dessen die Initiatoren und Teilnehmer des Friedensmarsches als polnische Landesverräter verschrien werden.

Das heißt, innerhalb der EU könnten sich diese Friedensbemühungen vor allem in Polen als historische Bewährungsprobe erweisen, die im Moment noch zu gewaltig erscheint, um angegangen zu werden. Zumal ein jeder dieser Versuche als vermeintlich "unauthentische" und durch "Putins Russland" forcierte Fremdbestimmung stigmatisiert und denunziert wird.

Elem Chintsky ist ein deutsch-polnischer Journalist, der zu geopolitischen, historischen, finanziellen und kulturellen Themen schreibt. Die fruchtbare Zusammenarbeit mit RT DE besteht seit 2017. Seit Anfang 2020 lebt und arbeitet der freischaffende Autor im russischen Sankt Petersburg. Der ursprünglich als Filmregisseur und Drehbuchautor ausgebildete Chintsky betreibt außerdem einen eigenen Kanal auf Telegram, auf dem man noch mehr von ihm lesen kann.

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