Meinung

Weder Pistorius noch mehr Panzer machen dieses Deutschland verteidigungsfähig

Zwei Jahrzehnte wollte man schnelle Eingreiftruppen für Kolonialkriege, jetzt soll es auf einmal eine Verteidigungsarmee sein, wofür man dringend mehr Panzer bräuchte. Da wird kein Schuh draus. Aus dieser Bundeswehr wird keine Verteidigungsarmee.
Weder Pistorius noch mehr Panzer machen dieses Deutschland verteidigungsfähigQuelle: www.globallookpress.com © Christian Charisius

Von Dagmar Henn

Der neue Verteidigungsminister Boris Pistorius kommt nun also zu dem Schluss, Deutschland habe "keine Streitkräfte, die verteidigungsfähig sind, also verteidigungsfähig gegenüber einem offensiven, brutal geführten Angriffskrieg." Ja, irgendwie hat er Recht damit. Aber "verteidigungsfähig" wäre diese Bundeswehr auch dann nicht, wenn sie mehr Panzer und Flugzeuge hätte.

Das Problem geht nämlich tiefer. Die Armee eines Landes ist ein Werkzeug zur Umsetzung politischer Ziele; sie kann nicht klüger, besser, tauglicher sein, als es diese Ziele und das Personal, das diese Ziele vorgibt, sind. Daher müsste man, um über Verteidigungsfähigkeit zu reden, erst einmal fragen: Wie sehen denn diese politischen Ziele aus? Wie diejenigen, die sie vorgeben? Die Bundeswehr war nämlich während ihres gesamten Bestehens nie eine auf Landesverteidigung ausgerichtete Armee. Davon gab es in der gesamten deutschen Geschichte nur eine, das war die Nationale Volksarmee der DDR.

Das nächste Problem, das gerade im vergangenen Jahr offengelegt wurde, ist, dass Produktionskapazitäten wesentlich wichtiger sind als das aktuelle Ergebnis der Erbsenzählerei. Auch die Frage des schlichten technischen Materials ist etwas komplexer.

Und schließlich muss man sich, wenn es denn tatsächlich um Verteidigung geht, nüchtern fragen: Gegen wen? Schließlich ist das Werkzeug Militär eines, das nur dann zum Einsatz kommt, wenn andere Mittel, wie Diplomatie, bereits gescheitert sind – vorausgesetzt natürlich, man hat diese Mittel zur Verfügung, woran man derzeit ernsthaft zweifeln muss.

Gehen wir in die Details. Die Aufgaben jeder Armee werden in politischen Beschlüssen bestimmt. So beispielsweise war die Aufgabe der NVA definiert:

"Im unerschütterlichen Zusammenwirken mit der Sowjetarmee und den anderen sozialistischen Bruderarmeen die erforderlichen äußeren Bedingungen für den Aufbau des Sozialismus und Kommunismus zu sichern, die Staatsgrenze, das Territorium, den Luftraum und das Küstenvorfeld der DDR sowie der verbündeten sozialistischen Staaten zuverlässig zu schützen, die Kampfkraft und Gefechtsbereitschaft ständig qualitativ zu vervollkommnen und jeder imperialistischen Aggression entschlossen zu begegnen."

Auch wenn mit den "verbündeten sozialistischen Staaten" eine Erweiterung des Einsatzgebietes über die strenge Landesverteidigung hinaus erfolgte, ein klar defensiver Auftrag. Was, nebenbei, für den gesamten Warschauer Vertrag galt; wie defensiv, kann man gerade an den vielen Festungsanlagen sehen, die im Verlauf des Ukrainekriegs immer wieder erwähnt werden und die belegen, dass die Sowjetunion ihre eigene Verteidigung buchstäblich mehrere Stockwerke tief in Beton gegossen hatte.

Diese massiven Bunkeranlagen sind nebenbei ein Beleg dafür, dass zu einer wirklichen Verteidigungsstrategie nicht nur das Militär selbst zählt. Man muss nicht allzu tief graben, um festzustellen, dass der Schutz der eigenen Bevölkerung in der alten wie in der erweiterten Bundesrepublik bei weitem nicht die Rolle gespielt hat, wie es die sowjetischen Bauten für die Sowjetunion belegen.

Aber zurück zum Auftrag. Für die Bundeswehr wird er im Weißbuch definiert; das letzte trägt das Datum 2016. Dort nimmt er ziemlich viel Raum in Anspruch, weshalb ich hier nur die Stichpunkte wiedergeben werde. Eingeleitet wird diese Definition damit, der Auftrag leite sich "aus den verfassungsrechtlichen Vorgaben sowie aus Deutschlands Werten, Interessen und strategischen Prioritäten ab". Man merkt schon hier, dass der klare, einfache Bezug auf den Schutz des Territoriums lediglich eine untergeordnete Rolle spielt. Tatsächlich ist er nur einer von vielen Punkten:

Souveränität und Gebiet verteidigen, zur Resilienz gegen äußere Bedrohungen beitragen, die außen- und sicherheitspolitische Handlungsfähigkeit stützen, mit Partnern und Verbündeten die offene Gesellschaft und Welthandels- und Versorgungswege schützen, zur Verteidigung der Verbündeten beitragen, international Sicherheit und Stabilität fördern, europäische Integration stärken, internationales Krisenmanagement betreiben, Heimat- und Katastrophenschutz, Partnerschaft und Kooperation auch über EU und NATO hinaus.

Man merkt schon an den Formulierungen, wie viele Hintertüren zur zusätzlichen Erweiterung des Aufgabenspektrums vorhanden sind; das Weißbuch 2016 zielt auf eine Art Kleinausgabe der US-Armee mit internationaler Einsatzfähigkeit als Kolonialtruppe ab. Aus der praktischen Erfahrung beim Ahrtalhochwasser kann man sagen, dass die Aufgabe Katastrophenschutz inzwischen eher dekorative Zwecke erfüllt und real nicht mehr wahrgenommen wird. Aber die Bundesmarine muss an diversen Orten weltweit die Durchfahrt deutscher Containerschiffe sichern.

Schon die Strategie der NATO während des Kalten Krieges, die sich "Vorneverteidigung" nannte und praktisch bedeutet hätte, dass die Bundeswehr erst einmal die DDR überfällt, war bestenfalls partiell defensiv. Die ganze Kriegsführung der US-Armee mit ihrem Schwerpunkt auf Luftüberlegenheit ist offensiv, nicht defensiv, während das starke Gewicht, das in der sowjetischen wie heute in der russischen Waffenentwicklung auf Luftabwehr gelegt wird, zu einem echten Verteidigungsansatz passt. Die Bundeswehr, der mit der NVA das unmittelbare Gegenüber abhandenkam, verlor auf dem Weg zur weltweit einsetzbaren Kolonialarmee die letzten Verbindungen zur Aufgabe der Landesverteidigung. Wenn jetzt die Rede davon ist, dass viele Panzer nicht einsatzfähig seien – nun, gegen militärisch weit unterlegene Gegner braucht man keine Panzerverbände. Und natürlich wird im Lauf der Zeit auch der Schwerpunkt bei der Beschaffung auf jenes Gerät gelegt, das für die Erfüllung der wirklichen Aufgabe gebraucht wird.

Die Folgen dieser Orientierung reichen aber noch tiefer. Dreißig Jahre sind eine ganze Generation; die heutige Führung der Bundeswehr kennt nur Interventionsarmee; Ausrüstung, Ausbildung und Erfahrung sind daran angepasst, und nicht danach ausgerichtet, wie das Gebiet Deutschlands gegen welchen Gegner auch immer zu verteidigen sei.

Und die Politik? Die erkennt einen Verteidigungsfall nicht einmal, wenn er unmittelbar vor ihr steht. Der Anschlag auf Nord Stream wäre nämlich einer. Ein militärischer Angriff eines staatlichen Akteurs auf ein zentrales Element der Versorgungsinfrastruktur. Kriege haben schon für weniger begonnen. Dumm nur, dass der Täter ausgerechnet jener Staat ist, von dem immer behauptet wird, er sei der beste, allerliebste und verlässlichste Bündnispartner. Unter diesen Voraussetzungen muss man sich schon vorab fragen: Selbst wenn dieses Deutschland eine auf die Landesverteidigung ausgerichtete, hervorragend ausgebildete und -gerüstete Armee hätte, was wäre sie wert, wenn auf solche Art und Weise nicht reagiert wird? Wie gesagt, die Armee ist das Werkzeug der Politik.

Aber begeben wir uns ins Reich der Erbsenzähler. Klar ist, die Klagen über kaputte Panzer etc. sind mit Vorsicht zu genießen, weil sie eben zu jenem Bereich gehören, der die letzten Jahrzehnte völlig unwichtig war. Klar muss aber auch sein, dass beides, die Interventions- und die Verteidigungsarmee, gleichzeitig nicht finanzierbar ist. Die so unschuldig klingenden zwei Prozent vom Bruttosozialprodukt sind immerhin schon zwanzig Prozent vom Bundeshaushalt. Hat irgendjemand gehört, dass irgendeiner der Verteidigungspolitiker der Regierungsparteien, oder gar Pistorius selbst, dem Konzept der Kolonialtruppe abschwören und stattdessen auf Landesverteidigung setzen will? Sicher nicht. Sie meinen das zusätzlich. Da sollte der deutsche Bürger vorsorglich schon einmal seinen Geldbeutel gut festhalten.

Aber betrachten wir doch einmal die Lektionen aus der Ukraine. Es ist durchaus unterhaltsam, wenn jetzt Überlegungen getroffen werden, man bräuchte doch mehr Panzer, und vor allem mehr Munition. Die USA meinen natürlich gleich, das Munitionsgeschäft einsacken zu können. Aber das sind die Neocons, die haben vorher noch nicht einmal die Metallfacharbeiter gezählt. Und die Sprengstoffexperten.

In Wirklichkeit war – und ich betone, war – Deutschland das einzige Land in der NATO, das tatsächlich imstande gewesen wäre, Rüstungsproduktion nennenswert zu steigern. Dafür, dass dem so war und nicht mehr so ist, haben die Vereinigten Staaten mit ihrem Anschlag auf Nord Stream selbst gesorgt. Es braucht nämlich für eine Ausweitung der Rüstungsproduktion einige Voraussetzungen: Stahlproduktion, insbesondere von Spezialstählen; Maschinenbau, weil selbst Granatenhülsen nicht von Hand geschnitzt werden; chemische Industrie zur Produktion von Sprengstoffen, und vor allem: ausgebildetes Personal. Um wahrzunehmen, wie ernst das Problem ist, muss man nur betrachten, dass der britische Challenger-3-Panzer in Deutschland gebaut werden soll, weil es in Großbritannien keine Werke mehr dafür gibt; und dass der einzige verbliebene Hersteller für Panzermotoren, MTU in Friedrichshafen, ganze acht Motoren jährlich produziert. Dass die USA überhaupt Panzer produziert haben, liegt Jahrzehnte zurück.

Dort wird sowieso kein Schuh draus. Deren ganze Rüstungsindustrie produziert völlig überteuert und noch dazu ohne jede industrielle Logik – damit genug Abgeordnete Häppchen für ihre Wahlkreise abbekommen, werden Produktionsprozesse in lauter kleine Schritte aufgeteilt, zwischen denen Hunderte von Kilometern liegen. Und nachdem die USA Industrieprodukte im- und nicht exportieren, gibt es keine leicht verfügbare Reserve ausgebildeter Arbeitskräfte.

Doch nehmen wir einmal an, die Politik würde wirklich ernsthaft auf Landesverteidigung umschwenken und die Bundeswehr würde ihre Ausbildung und Ausrüstung entsprechend anpassen – wer ist denn da, gegen den man sich verteidigen können sollte?

Leider muss man sagen, dass sich dieses Deutschland nicht gerade beliebt gemacht hat. Schließlich hat es sich die letzten dreißig Jahre damit beschäftigt, sämtliche europäische Nachbarn industriell gegen die Wand zu drücken und politisch die übelsten neoliberalen Vorgaben zu machen, wie mit den Troika-Verträgen für Griechenland. Das übrigens auch mit der Migrationspolitik nicht glücklich ist. Frankreich? Die haben auch so einen ungeklärten Verteidigungsfall; vom Brand in Notre Dame hat man nie wieder etwas gehört; kann man mit Sicherheit ausschließen, dass da Berlin...? Die Österreicher sind sicher noch ganz vernarrt in uns, wegen dieser Ibiza-Nummer. Und Ursula von der Leyen sorgt tagtäglich dafür, dass die Fans der deutschen Politik mehr werden.

Dass ist jetzt nur der Teil, den tatsächlich die Berliner Politik zu verantworten hat. Dann gibt es auch noch die Polen, die gerade mal wieder eine Regierung haben, die gern Großmacht spielen würde und die immer wieder ihre Reparationsforderungen zückt. Das wäre auf jeden Fall ein, zwei Gedanken wert.

Solche Überlegungen wären schon deshalb angebracht, weil weder die EU noch die NATO so stabil sind, wie die deutsche Politik das gern darstellt. Wenn die Niederlage in der Ukraine unübersehbar ist, was geschieht dann? Was, wenn die europäische Wirtschaft durch Sanktionen gegen China ins Bodenlose fällt? Bleiben all diese überstaatlichen Strukturen erhalten, oder werden sie von den dann aufbrechenden Widersprüchen zerrissen? Und soll man ernsthaft glauben, ein deindustrialisiertes Deutschland könne sich die Großsprecherei der letzten zwei Jahrzehnte weiterhin leisten?

Schlimmer noch. In dem Moment, da sich diese Institutionen zerlegen, wäre gute Diplomatie das einzige Mittel, um die dann aufkommenden Konflikte zu bewältigen. Annalena Baerbock? Und dahinter das auf Kolonialherr getrimmte Personal, das heute das Auswärtige Amt beherrscht? Wenn es nicht gelingt, irgendwie den Geist eines Egon Bahr zu beschwören, führt das direkt in die Katastrophe.

Aber das ist natürlich alles nicht gemeint. Schon allein deshalb nicht, weil jede von den angestrebten NATO-Zielen abweichende Variante ein Plan B wäre, und die heutigen Akteure des Westens kennen immer nur einen Plan A. Auch wenn das ständige Gerede, die Ukraine müsse und könne siegen, nicht ganz damit zusammenpasst, jetzt noch mehr Panzer zu brauchen, um sich ausgerechnet gegen Russland zu verteidigen, das davor schließlich zumindest noch die Ukraine und Polen besiegt haben müsste.

Das aber durchaus die Möglichkeit hätte, Westeuropa schlicht im eigenen Saft schmoren zu lassen und dabei zuzusehen. Sollten in dem Fall Deutschland und Polen aneinandergeraten, wäre das im Generalstab der russischen Armee sicher eine Liveübertragung zu Knabberzeug und Wodka wert.

Nein, das wird nichts mit Verteidigungsbereitschaft. Denn überhaupt gibt es noch einen nicht ganz unerheblichen Faktor. Der besteht darin, dass die Menschen, die letztlich gefragt sind, etwas zu verteidigen haben. Das wiederum erfordert eine Politik, die zumindest in Teilen tatsächlich die Interessen dieser Menschen verfolgt. Davon ist augenblicklich in weiter Ferne nichts zu sehen.

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