Europa

Berliner DKP-Chef kandidiert für EU-Wahl und bereist Neurussland – Interview mit Stefan Natke

Der DKP-Landesvorsitzende von Berlin kandidiert für die Deutsche Kommunistische Partei zur Europawahl der EU. Er ist gerade aus dem Donbass und dem Gebiet Saporoschje zurückgekehrt, wo er gemeinsam mit der Antifaschistischen Karawane war. Für unsere Redaktion ist er mit diesem Interview ein wichtiger Zeitzeuge.
Berliner DKP-Chef kandidiert für EU-Wahl und bereist Neurussland – Interview mit Stefan Natke© Guillermo Quintero

Stefan Natke, der Landesvorsitzende der Deutschen Kommunistischen Partei (DKP) in Berlin, brachte mit einer Gruppe Gleichgesinnter aus ganz Europa humanitäre Hilfe in den Donbass und andere neue Regionen Russlands. Seine mehrtägige Reise fiel in den Zeitraum der diesjährigen russischen Präsidentschaftswahlen. In einem Interview mit RT DE berichtet er von seinen Eindrücken.

Herr Natke, was hat Sie dazu bewogen, in die sogenannten besetzten Gebiete zu reisen?

Wie auch schon früher war ich mit der "Antifaschistischen Karawane" im Donbass unterwegs, diesmal waren wir 15 Personen aus Deutschland, Frankreich, Italien, Spanien, dem Baskenland und Palästina. Wir besuchen dort alljährlich Waisenhäuser und Einrichtungen für Kinder mit Beeinträchtigungen, um sie moralisch und praktisch zu unterstützen. Kinder sind immer die ersten Verlierer in jedem Krieg. In den neu zur Russischen Föderation beigetretenen Gebieten gibt es natürlich auch Kinder mit denselben Problemen, und deswegen hat uns unser Weg auch dorthin geführt. Natürlich interessiert es uns von der Antifaschistischen Karawane auch, wie die Bevölkerung insgesamt so "drauf" ist. Wir sprechen mit den Leuten auf der Straße, in den Gaststätten und natürlich auch im oder vor dem Wahllokal, wenn sich die Gelegenheit dazu bietet.

Wo waren Sie? Was sahen Sie vor Ort? Ist die Nähe des Krieges dort zu spüren?

Wir waren in Lugansk, Altschewsk, Gorlowka, Donezk, Berdjansk, Melitopol und Mariupol. Unser Besuch im Krankenhaus von Wassiljewka musste leider wegen starken Beschusses von der ukrainischen Seite ausfallen. Wir hatten dem Chefarzt dort im vorigen Jahr versprochen, 2024 wieder vorbeizukommen und ihm Medikamente zu bringen, sozusagen als solidarische Unterstützung. In diesem Kreis-Krankenhaus werden nämlich zivile Opfer operiert und behandelt, die von dem Beschuss mit NATO-Waffen seitens der Ukraine betroffen sind oder vielmehr getroffen wurden. Als wir im letzten Jahr dort waren, hatte die ukrainische Artillerie kurz zuvor das zivile Krankenhaus beschossen und große Teile dessen lahmgelegt. Wer macht so etwas?

Was war dort Ihr prägendstes Erlebnis? Haben Sie mit vielen Menschen gesprochen? Wie unterscheidet sich die Situation heute von der in früheren Reisen?

Ein sehr prägendes Ereignis war der Besuch eines Flüchtlingsheims mit Geflüchteten aus dem Staatsgebiet der Ukraine. Was diese Menschen berichtet haben, ging einem tatsächlich unter die Haut. Hier in der BRD wird ja der Eindruck erweckt, dass Ukrainerinnen und Ukrainer nur in den Westen fliehen. Über jene Menschen, die in den Kellern von Artjomowsk und Awdejewka auf die Milizen der Volksrepubliken des Donbass und die Streitkräfte der Russischen Föderation gewartet haben, spricht hier niemand – und das sind viele.

Auch haben wir einen Außenbezirk von Donezk besucht, der immer noch tagtäglich beschossen wird. Das ist schon eine ländliche Gegend am westlichen Rand der Stadt. Am Tag zuvor starben in diesem Ort drei Kinder, das jüngste Mädchen war zwei Jahre alt. Es war ein nächtlicher Volltreffer. Am nächsten Tag standen wir dort, wir haben die ganzen Zerstörungen gesehen – ein bedrückender Anblick. Die Ruinen waren nach dem Brand noch nicht ganz abgekühlt! Später haben wir ein Video von der Beerdigung zugeschickt bekommen, wo die Mutter an drei Särgen ihrer Kinder steht und untröstlich weint. Einige Zeit zuvor war auch ihr Mann gefallen, der als Freiwilliger an der Front kämpfte. So sieht eine Geschichte aus dem notleidenden Donbass aus.

Aber es gab auch Positives zu erleben. Der Unterschied zu den vorherigen Reisen bestand darin, dass die Menschen in den Donbass-Republiken und in Gebieten Neurusslands – der Begriff stammt aus der Zeit Katarina der Großen aus dem Hause Zerbstsich jetzt wieder frei entfalten können, ohne Sanktionen befürchten zu müssen. Sie können jetzt wieder freimütig ihre Sprache sprechen und haben eine Zukunftsperspektive, die sie in der Ukraine unter der nationalistischen Führung nie hatten.

Völlig krass ist natürlich der rasante Aufbau der Stadt Mariupol. Hatten wir im vergangenen Jahr schon einige Neubauviertel und renovierte Häuser besuchen können, so war es in diesem Jahr einfach überwältigend zu sehen, in welch atemberaubendem Tempo dort ganze Wohnviertel aus dem Boden gestampft und mit der nötigen Infrastruktur versorgt werden. Ich muss dabei immer an Deutschland denken. Hier nimmt die Regierung immer den Mund voll, dass sie 600.000 Wohnungen in einem Jahr errichten wollen und hinterher ist noch nicht einmal ein Zehntel davon verwirklicht. Große Klappe – nix dahinter. In Russland ist das anders, da wird tatsächlich gebaut.

Waren Sie Zeuge bei den Präsidentschaftswahlen? Die offizielle deutsche Position ist, dass auch diese Wahlen in Russland nicht demokratisch waren. "Diktatoren brauchen ab und zu solche Volksabstimmungen zu Legitimation ihrer Macht", sagte etwa der Ex-Botschafter Rüdiger von Fritsch in einer Talkrunde. Wie sehen Sie das?

Ich sehe das so: Sie sollten mich einmal zu diesen "Talkrunden" einladen, aber das trauen sie sich nicht. In Berlin haben wir zweimal Wahlen wiederholen müssen, weil es zu Unregelmäßigkeiten beim Wahlvorgang gekommen war – ein total peinlicher Vorgang in einem Land, das sich als so etwas wie den "Gralshüter der Demokratie" schimpft. Die Arroganz der Herrschenden in diesem Land geht dabei so weit, dass sie sich anmaßen, darüber zu urteilen, ob in anderen Ländern die Wahlen korrekt ablaufen oder nicht. Zum Fremdschämen – sage ich da nur.

Am 17. März waren wir in Berdjansk, das ist eine Hafenstadt am Asowschen Meer in der Region Saporoschje. Wir waren keine offiziellen Wahlbeobachter, aber wir haben gesehen, wie die Leute wählen gegangen sind. Organisatorisch erfolgte die Wahl auf hohem Niveau. So waren in der Stadt viele mobile Wahlkabinen mit plombierten Wahlurnen unterwegs. Das Prozedere wurde auf die Bildschirme bei der Wahlkommission live übertragen. Auch die Wahlbeteiligung war sehr hoch. 

Die Ukraine, die im Westen als "demokratisches Land" gepriesen wird, hat versucht, mit dem Artilleriebeschuss diese Wahlen zu verhindern. Ausgerechnet in Berdjansk starb an jenem Tag, als wir da waren, eine Frau, ein Mitglied der Wahlkommission. Zuvor gab es am 6. März ebenfalls in Berdjansk einen tödlichen Bombenanschlag, infolgedessen eine Person starb.

Die Meinung der linken Kräfte zu Russland ist gespalten. Viele betrachten den russischen Militäreinsatz als imperialistischen Feldzug und den Kampf der Ukraine als einen Befreiungskrieg. Also wer befreit in der Ukraine wen und von wem – Ihrer Meinung nach?

Ich sage es mal so: Wer die Entwicklung in der Ukraine nach der Auflösung der Sowjetunion – und auch diese selbst – mit Aufmerksamkeit verfolgt hat, kann eigentlich keiner anderen Meinung sein, als dass die Russische Föderation und die Volksrepubliken des Donbass einen Verteidigungskampf gegen die NATO führen, wobei die als Speerspitze ausgerüstete, nationalistisch geprägte Ukraine das Kanonenfutter stellt.

Wo werden denn die Lenin-Denkmäler abgerissen und durch die von Nazi-Kollaborateuren aus dem Zweiten Weltkrieg ersetzt? Wo sind denn kommunistische und fortschrittliche Parteien verboten? In der Russischen Föderation oder in der Ukraine? Wo wird mit dem Faschisten-Gruß "Slawa Ukrajini" der OUN gegrüßt? In Russland oder in der Ukraine? Wir haben viele Soldaten der russischen Armee mit den Symbolen der Sowjetunion auf den Ärmeln ihrer Militäruniformen gesehen – in der Ukraine würden sie dafür in den Knast gehen.

Allerdings sind dagegen Soldaten mit Hakenkreuz-Tätowierungen dort herzlich willkommen. Menschen im Donbass haben mir gesagt, dass 1991 die große Mehrheit der Bevölkerung der Sowjetunion in einem Referendum für die Erhaltung und gegen die Auflösung der UdSSR gestimmt hatte. Es hat nicht genützt, Gorbatschow und Jelzin haben den Volkswillen nicht respektiert und damit diese katastrophale Entwicklung ausgelöst.

In der Sowjetunion wäre es undenkbar gewesen, dass sich Ukrainer und Russen militärisch bekämpfen, die Menschen waren an solidarische Zusammenarbeit gewöhnt. Um Klartext zu reden: Die Ukraine muss von ihrer durch einen gewaltsamen und durch die USA und die EU unterstützten Putsch an die Macht gekommene, von Faschisten durchsetzte Regierung befreit werden. Das gewöhnliche Volk in der Ukraine hat nichts gegen Russen und umgekehrt.

Fürchten Sie irgendwelche Folgen für sich nach dieser Reise? Bedenken Sie Causa Patrik Baab, wobei auch er in Wirklichkeit kein Wahlbeobachter war. Was erzählen Ihre Kollegen aus anderen Ländern von ihren Erfahrungen, ist die Lage dort ähnlich? Ich meine die Hetzkampagnen und den politischen Druck.

Wir haben jetzt in der Bundesrepublik Deutschland eine politische Situation, die sich deutlich von der Epoche mit Willy Brandt unterscheidet. Wir befinden uns in einer Phase eines militärisch-reaktionären Umbaus des Staates. "Kriegstüchtig werden" ist wieder Programm, das war vor ein paar Jahrzehnten noch undenkbar. Der deutsche Imperialismus hat es mal wieder geschafft, die Gesellschaft auf Kriegskurs zu trimmen – und zwar gegen die ureigensten Interessen der Bevölkerung.

Die Propaganda läuft Tag und Nacht, in allen Medien, auf YouTube und sogar beim Sport. Es ist abscheulich mitanzusehen, aber fürchten tue ich mich nicht. Mit dem Verteidigen der Völkerfreundschaft und gegen Faschismus und imperialistischen Krieg sehe ich mich auf der richtigen Seite, und das gibt mir Gewissheit und Kraft. Wenn ich im Donbass jemandem sage, dass ich Kommunist bin, werde ich umarmt. Hier in meiner Heimat muss ich mich dafür rechtfertigen. Soweit ist es schon wieder.

Sie sind Kandidat der DKP bei den bevorstehenden EU-Wahlen. Dass die DKP für die EU-Wahl kandidiert, hat mich ehrlich gesagt überrascht. Welchen Zweck verfolgen Sie mit diesem Schritt?

Die Europäische Union ist ein imperialistisches Konstrukt und kein solidarischer Zusammenschluss der Völker Europas, wie es immer zu vermitteln versucht wird. Letztendlich gilt das Recht des Stärkeren, und das ist immer die BRD – oder Frankreich. Die oberste Chefin der EU, Frau von der Leyen, hat niemand gewählt, sie stand noch nicht einmal auf den Wahllisten zur vorigen EU-Wahl. Soviel an dieser Stelle zur "Demokratie" dieser Institution.

Ich trete als Kandidat der Deutschen Kommunistischen Partei zu diesen Wahlen an, um den Wahlkampf dafür zu nutzen, den Menschen die Augen zu öffnen. Um ihnen zu zeigen, dass es sich mit der EU um das Abzocken der ärmeren durch die reichen Länder handelt. Denken sie daran, wie seinerzeit Griechenland fertiggemacht wurde. Für den Fall, dass wir einen Platz im EU-Parlament erringen sollten, werden wir die Stimme der arbeitenden Bevölkerung und die Stimme des Friedens sein. Wir kämpfen konsequent gegen die fortschreitende Militarisierung der EU, für Frieden mit Russland und China, für ein Europa der Völker und gegen eine EU der Monopole.

Mit ihren knapp 3.000 Mitgliedern ist die DKP eine Kleinstpartei. Der bundesdeutsche Verfassungsschutz sieht ein Problem in der DKP, weil sie eine "Gegnerschaft zum bestehenden politischen System" propagiert. Betrachten Sie und ihre Parteikollegen sich auch so?

Das bestehende Gesellschaftssystem der BRD ist das kapitalistische. Es ist wahr, dass wir für ein sozialistisches Gesellschaftssystem eintreten, weil wir der Auffassung sind, dass nur so der Frieden für die Menschheit garantiert und der Reichtum, den eine Gesellschaft erwirtschaftet, gerecht verteilt wird. Im Moment öffnet sich die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter. Das kapitalistische System kann die Bedürfnisse und Notwendigkeiten der Menschheit nicht befriedigen, täglich bekommen wir dafür die Beweise. Ob die DKP im Moment klein ist oder nicht, sagt nichts über die Richtigkeit ihrer Analyse aus. Im Übrigen kann sich so etwas auch sehr schnell ändern.

Das kapitalistische Gesellschaftssystem ist ja nicht im Grundgesetz festgeschrieben. Dieses lässt durchaus auch die Möglichkeit einer sozialistischen Alternative zu. So forderte selbst die CDU nach dem Krieg in ihrem Ahlener Programm 1947 die Überwindung des Kapitalismus.

Vielen Dank für das Gespräch!

Das Interview führte der RT DE-Redakteur Wladislaw Sankin.

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